Ein Interview der jungen Reporter des Grand méchant loup mit Juliane Haubold-Stolle und Andreas Mix vom Deutschen Historischen Museum Berlin
Kam der Erste Weltkrieg für die Bevölkerung sehr unerwartet oder lag eine gewisse Spannung schon in der Luft?
Juliane Haubold-Stolle: Sowohl als auch. Einerseits hatte in Mittel- und Westeuropa schon seit längerer Zeit Frieden geherrscht, deshalb haben auch viele Menschen im Sommer 1914 eher nicht mit einem Krieg, besonders nicht in einem solchen Ausmaß, gerechnet. Selbst als der österreichische Thronfolger in Sarajevo erschossen wurde, ahnte die Bevölkerung, die zu diesem Zeitpunkt größtenteils entweder bei der Ernte war oder aber Urlaub machte, nichts von den dramatischen Folgen.
Wann hat denn der Krieg nun begonnen? Am 1. August? Oder am 3. August 1914?
Andreas Mix: Das kommt auf das Land an. Österreich erklärt Serbien den Krieg schon am 28. Juli 1914. England erklärt den Krieg am 4. August 1914, Italien mischt sich 1915 ein und für die USA beginnt der Krieg erst 1917... Von daher gibt es auf diese Frage keine richtige Antwort.
Juliane Haubold-Stolle: Aber der 1. August 1914 hat sich wahrscheinlich als Beginn des Weltkrieges durchgesetzt, weil Deutschland damals Russland den Krieg erklärte.
Das Attentat von Sarajevo war sozusagen der Auslöser für den Ersten Weltkrieg. Könnte so ein „einfaches“ Attentat auch heute noch zu einem Weltkrieg führen?
Andreas Mix: Ich denke, dass es in Europa vielleicht nicht so schnell dazu kommen kann, da die Staaten durch die engen politischen Verknüpfungen nicht so einfach einen neuen Krieg beginnen können.
Juliane Haubold-Stolle: Das Attentat von 1914 hätte nicht zwangsweise zum Krieg führen müssen. Es hat ja auch immer wieder Momente gegeben, wo alle Seiten bereit waren, einzulenken. Aber dann kam immer noch ein weiteres eskalierendes Ereignis hinzu und hat somit einen frühen Friedensschluss immer wieder verhindert.
Das Besondere am Ersten Weltkrieg
Was ist das Besondere am Ersten Weltkrieg?
Andreas Mix: Das Besondere ist, dass Nationen eine ziemlich lange Friedenszeit hinter sich hatten, in der sich unglaublich viel getan hat. Zunächst die Industrialisierung: Es gab auf einmal große Unternehmen, die mit modernen Produktionsmethoden Dinge, z.B. Waffen herstellten, was natürlich für den Krieg besonderes wichtig wurde. Es gab neue Technologien. Neue Kommunikationsmethoden wie Telegrafie oder Telefon kamen auf. Die Welt hat sich modernisiert und mit diesen Mitteln sind die Nationen in den Krieg gezogen. Das hat dazu beigetragen, dass der Krieg unglaublich blutig wurde, dass er unglaublich viel Menschenleben und auch Geld gekostet hat.
Juliane Haubold-Stolle: Zum ersten Mal ermöglichte die Industrie das massenhafte Töten von Menschen. Und noch während des Krieges gab es eine technologische Entwicklung, die das Verletzen und Töten noch mal perfektioniert hat: die Giftgase.
Sie sind mit alten Vorstellungen in den Krieg gezogen. Wenn wir uns die Soldaten von 1914 ansehen und die von 1918, sind sie anders. 1914 sind die Franzosen noch mit rotem Käppi und roten Hosen in den Krieg gezogen, viele sind einfach deshalb gestorben, weil man sie wunderbar von weitem erkennen konnte. Relativ schnell hat man bemerkt, dass sie eine Tarnfarbe und Helme tragen müssen. Die Deutschen waren nicht besser mit ihren Pickelhauben, die sehr weit zu sehen waren.
Kriegsbegeisterung und Antikriegsbewegung
Im August 1914 zogen die meisten Soldaten in Europa begeistert in den Krieg, ist das wahr?
Andreas Mix: Das Bild der total begeisterten Soldaten entsteht dadurch, dass die meisten Fotos in den großen Städten von den Studenten und Gymnasiasten gemacht wurden. Sie haben sich sehr auf den Krieg gefreut, deshalb haben viele Menschen das Gefühl, dass alle mit Freude in den Krieg gezogen sind. Aber die Bauern mussten nicht nur ihre Felder verlassen, sie mussten auch ihre Pferde abgeben. Also sehr begeistert waren nicht alle.
Juliane Haubold-Stolle: Nach zwei Wochen war diese Begeisterung für den Krieg meistens vorbei, als viele in ihren Briefen von der Grausamkeit berichteten und sich nicht mehr auf einen Sieg freuten, sondern auf den Frieden.
Es gibt ja auch einen Film „Merry Christmas“, in dem es ja um die Verbrüderung deutscher, französischer und schottischer Soldaten zu Weihnachten 1914 geht. Ist das wahr?
Juliane Haubold-Stolle: Ja, es gab diesen Weihnachtsfrieden in einigen Gebieten an der Westfront. Es ist spontan zu diesem Frieden gekommen: man hat vielleicht gehört, dass die sogenannten Feinde ein Weihnachtslied gesungen haben und dann ist es an einigen Stellen sogar zu einem dreiwöchigen lokalen Waffenstillstand gekommen. Es gab dann auch viele Soldaten, die nicht wieder anfangen wollten, aber die Offiziere haben sie dazu gezwungen.
Gab es damals schon eine Antikriegsbewegung? Wann fing es an?
Juliane Haubold-Stolle: Schon vor dem Ersten Weltkrieg gab es eine relativ starke Antikriegsbewegung. Es gab sofort nach Kriegsbeginn Kriegsdienstverweigerer, die nicht kämpfen wollten. Es gab Gruppen gegen den Krieg, die den Frieden sofort schließen wollten, ohne dass man nach Reparationen fragt, und es gab Leute, die als Pazifisten ins Gefängnis gehen mussten. Es gab auch eine internationale Zusammenarbeit gegen den Krieg, vor allem über die Schweiz oder neutrale Länder.
Warum haben die Soldaten so lange weiter gekämpft und sich nicht verweigert?
Juliane Haubold-Stolle: Das ist für mich immer wieder eine große Frage. Warum? Man liest, was die Soldaten schreiben, ich will nicht mehr, ich will nach Hause, es ist Mist hier, aber sie kämpfen weiter, sie meutern auch nicht. Auch die Meuterer in Frankreich sind nicht prinzipiell gegen den Krieg, sie wenden sich gegen die Zustände und gegen die Art und Weise der Militärführung. Aber viele sagen nicht, wir wollen sofort aufhören.
Ich weiß von meinem Uropa, dass er während des Krieges sehr viel Schnaps getrunken hat, also dass er eigentlich die ganze Zeit betrunken war. War das oft so?
Juliane Haubold-Stolle: Ja, der Alkohol hat auf allen Seiten eine große Rolle gespielt. Alkohol war in gewisser Weise auch krankheitsvorbeugend, weil die Versorgung mit sauberem Wasser oft nicht gegeben war. Man musste etwas trinken: es dämpfte den Hunger, machte mutiger und betäubte.
Alltag
War das Leben in Frankreich, Deutschland und Polen sehr unterschiedlich für die Soldaten und die Familien?
Andreas Mix: Ich glaube, es kommt immer darauf an, zu welcher Gesellschaftsgruppe man gehört. Ein großer Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland ist, dass ein Teil von Frankreich besetzt war, und zerstört wurde, es waren Kriegsgebiete. Das war in Deutschland bis 1918 nicht der Fall. Trotzdem war das Leben während des Krieges auch in Deutschland sehr hart, in den letzten Jahren gab es viel zu wenig Nahrungsmittel.
Juliane Haubold-Stolle: Das gilt für Polen auch, in den polnischen Gebieten unter deutscher Besatzung wurden Lebensmittel beschlagnahmt, so dass die polnische Bevölkerung auch sehr gehungert hat. Und dort hat auch die Armee gekämpft, da wurde die Landschaft zerschossen, da war alles zerstört.
Umgang mit dem Ersten Weltkrieg
Für polnische Soldaten war der Krieg besonders schmerzhaft - sie gehörten zu verschiedenen Armeen, das heißt ein Pole musste gegen einen Polen kämpfen. Wird auf diese Tragik eingegangen?
Juliane Haubold-Stolle: Ja. Wir gehen an mehreren Stellen auf Polen besonders ein. Wir beschäftigen uns mit verschiedenen Schlachten, in denen viele Polen gekämpft haben. Außerdem haben wir noch das kleine Skizzenbuch eines polnischen Soldaten, der in der russischen Armee kämpfte und dann in deutsche Kriegsgefangenschaft kam. Und das Fotoalbum eines polnischen Soldaten, der für die Österreicher gekämpft hat. Wir wollen in unserer Ausstellung verschiedene Orte vorstellen, wo der Krieg stattfand: Im Westen vor allem die großen Schlachtfelder. Aber wir wollen ebenso zeigen, dass in Polen auch sehr viel gekämpft wurde, und die Ostfront beleuchten.
Weder an das Ende noch an den Beginn des Ersten Weltkrieges wird in Polen offiziell erinnert.
Man plant in Warschau aber eine große Feier zum 100. Geburtstag Polens, also 2018. Der Erste Weltkrieg soll aber nicht zum Thema werden. Ist Polen damit eine Ausnahme in Europa?
Andreas Mix: Ich glaube, die Polen sehen sich oft als Ausnahme, weil sie denken, dass niemand ihre Geschichte verstehen kann... Es stimmt, dass in Polen nicht auf dieselbe Weise auf den Ersten Weltkrieg geschaut wird wie zum Beispiel in Frankreich oder in Deutschland.
Juliane Haubold-Stolle: Das zeigt aber auch, dass Frankreich oder Großbritannien, die ja als Sieger aus diesem Krieg gegangen sind und Deutschland oder Österreich-Ungarn, die Verlierer, sich ganz anders verhalten als Polen, das sich ja eher an die Rückgewinnung der Unabhängigkeit erinnert. Es sind de facto unterschiedliche Erfahrungen.
Die Ausstellung im Deutschen Historischen Museum
Was ist schwierig bei so einer Ausstellung?
Juliane Haubold-Stolle: Das größte Problem ist ein technisches, denn viele Museen machen selbst eine Ausstellung zu diesem Thema und benötigen daher ihr eigenes Material. In Frankreich, in Deutschland, in Polen, in Großbritannien, Kroatien: Egal, wo wir fragen, brauchen die Kollegen die besten Stücke für ihre eigene Ausstellung.
In Frankreich gibt es gerade ein Projekt, das die Menschen dazu aufruft, Erinnerungsstücke ins Museum zu bringen. Wie finden Sie das?
Juliane Haubold-Stolle: In Deutschland gibt es nicht so einen offiziellen Aufruf wie in Frankreich.
Durch die erhöhte Medienaufmerksamkeit für den Ersten Weltkrieg im Moment schauen aber viele von sich aus zu Hause und finden doch noch einiges und bringen diese Dinge dann ins Museum oder rufen einfach an.
Glauben Sie, dass der Erste Weltkrieg ein junges Publikum interessieren kann?
Andreas Mix: Ich hoffe. Man muss zeigen, wie anders die Welt vor 100 Jahren war, aber so fern war es auch gar nicht. Es gab Industrieunternehmen, die weltweit operierten, die ganz viele Güter exportierten, man unterhielt Beziehungen ins Ausland. Man konnte vor 1914 ohne einen Pass reisen. Das ist so ungefähr wie heute. Wir brauchen keinen Reisepass mehr, um in Europa zu reisen. In dem Sinne war die Welt vor dem Krieg eine moderne Welt. Das wollen wir in der Ausstellung zeigen.
Vielen Dank!
Bei der Kinderwebsite zeitklicks.de kannst du noch mehr über die Geschichte des Ersten Weltkrieges erfahren.
Interview: Ada, Julia, Rebekka und Ulysse
Zeichnungen: Ada, Alice, Alina, Gaia, und Clara.
Sonstiges Material stammt aus dem Privatbesitz von Kinderreportern des Bösen Wölfes | Fliegerpass © Antonia
Text, Zeichnungen und Fotos © Böser Wolf |März 2014