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Mit Frau Merkel spreche ich natürlich deutsch

  

  Der französische Premierminister Jean-Marc Ayrault beantwortet die Fragen

von Chloé, Emil, Emmanuelle und Ulysse, Schülerreporter des Bösen Wolfs

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sie waren zwölf Jahre alt, als der Élysée-Vertrag 1963 unterzeichnet wurde. Können Sie sich daran erinnern?
Ich habe keine genaue Erinnerung, aber ich kann mich - durch das Fernsehen und die Kinonachrichten – an das Treffen von General de Gaulle, der eine große Figur der Geschichte Frankreichs war, mit dem deutschen Kanzler erinnern. Es war ein historisches Ereignis, denn 1963 war ja immerhin nicht sehr lange nach dem Krieg. Beide Länder waren davon geprägt. Es ist ein Ereignis, das mich schon damals beeindruckt hat.

Warum wollten Sie Deutschlehrer werden?
Weil die Sprache mir gefiel, mich berührte, und weil ich Lust hatte, sie zu lernen und danach einen Beruf daraus zu machen. Wenn man eine Sprache lernt, hat man auch Interesse an der Kultur, an der Zivilisation, an den Traditionen, an den Menschen. Ich habe also Deutschland kennen gelernt, die Deutschen kennen gelernt. Und das ist etwas, was einen reicher macht. Das kennt ihr, denn ihr seid auch Franzosen und wohnt in Berlin.

Erleichtert es Ihre Arbeit in den internationalen Beziehungen, dass Sie deutsch sprechen?
Es vereinfacht auf jeden Fall die Beziehungen mit den Deutschsprachigen. Das gilt für Deutschland, wenn man mit den führenden Politikern, mit der Kanzlerin, mit manchen Ministern spricht. Es gilt auch für Österreich. Ich kenne den Kanzler Faymann, den ich mehrmals getroffen habe. Mit ihm spreche ich natürlich deutsch.

Sie sprechen also deutsch mit Frau Merkel?
Ja, ich hatte ein Gespräch mit ihr, ein „tête-à-tête“, also unter vier Augen, seht ihr, wie subtil Sprachen sind. Auf Deutsch heißt es nicht „von Kopf zu Kopf“ sondern „unter vier Augen“. Ich hatte also dieses Vergnügen, das Gespräch direkt ohne Dolmetscher zu führen.

Haben Sie ein deutsches Lieblingswort?
Was ich mag, ist „Heimat“. Es ist nicht nur der Geburtsort, es ist auch eine Art von Vertrautheit, von Bindung. Dann gibt es ein anderes, ziemlich originelles Wort, das man ins Französische nur schwer übersetzen kann: das Wort „Sehnsucht“. Es ist ein sehr schönes, nostalgisches, ein wenig sentimentales Wort. Und dann „Gemütlichkeit“. Das ist sehr besonders und praktisch nicht zu übersetzen. Es sagt aber alles, wenn man Deutschland ein wenig kennt: Die Gemütlichkeit.



Und was ist typisch deutsch für Sie?
Es gibt vieles, aber das zum Beispiel, die Gemütlichkeit. Typisch deutsch ist auch, sich gern zusammenzusetzen, sich außerhalb zu treffen. Zum Beispiel am Stammtisch in einer Kneipe, das ist typisch deutsch. Und dann gibt es natürlich noch viele andere Dinge.

Kommt der Aufbau Europas politisch von links oder von rechts?

Nein, schließlich stammt er von einer Politikergeneration, die nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossen hat, nicht mehr so weiter zu machen, die Dinge nicht mehr so laufen zu lassen. Es gab den Ersten Weltkrieg, und dann, mit der Krise der Dreißigerjahre, haben der Faschismus, der Nationalsozialismus und der Totalitarismus jeden Willen zum Frieden, zur Brüderlichkeit, zur Versöhnung weggefegt, der besonders zur Zeit des Völkerbundes von Persönlichkeiten wie in Frankreich zum Beispiel Aristide Briand und in Deutschland Gustav Stresemann gefördert worden war. Beide Politiker bekamen den Friedensnobelpreis 1926. Und dieser Friedenswille wurde durch das Aufkommen des Faschismus und des Nationalsozialismus einfach beseitigt. Man musste also wieder von vorne anfangen. Nach der ersten Tragödie kam die zweite. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Menschen mit gutem Willen, sie kamen aus verschiedenen Parteien, und sie haben gesagt, wir werden das nicht wiederholen. Und diesmal werden wir die politischen, aber auch die wirtschaftlichen Probleme angehen. Und wir tragen für dieses Erbe die Verantwortung.

 

Was bedeutet die deutsch-französische Freundschaft für Sie?
Das ist die Grundlage. Zuerst war es die Basis für den Aufbau Europas, denn ohne deutsch-französische Versöhnung wäre nichts möglich gewesen, ebenso wie sich Deutschland danach mit Polen versöhnt hat. Heute bilden Deutschland und Frankreich die Basis für den Aufbau Europas, nicht allein, nicht, um unsere Sicht anderen Ländern aufzuzwingen. Aber die Geschichte weist uns diesen Weg dahin.

 

 

Interview: Chloé, Emil, Emmanuelle & Ulysse

Zeichnungen: Alina und Gaïa

Text, Zeichnungen und Fotos: © Böser Wolf

- November 2012