Die Zeit des Nationalsozialismus >>>
Ernst Leitz rettete Menschen >>>
Die Kinderreporter des Grand méchant loup sind mit dem Schnellzug nach Wetzlar gefahren und haben Knut Kühn-Leitz getroffen. In der Villa Friedwart, auf der Veranda, einem der Lieblingsorte seines Großvaters, haben wir uns über Ernst Leitz unterhalten, diesen Menschen, der die berühmteste Kamera der Welt herstellte, aber auch das Leben vieler Menschen während der Nazi-Zeit retten konnte.
Wie alt waren Sie, als Sie Ihren ersten Fotoapparat bekommen haben?
Ich war 15 oder 16. Es war also 1951, 52. Es war noch eine sehr einfache Kamera, eine Leica 1. Die hatte ich von meinem Großvater geschenkt bekommen.
Wie alt war Ihr Opa damals?
Mein Großvater ist 1951 achtzig geworden.
Wann haben Sie das erste Mal die Fabrik Ihres Opas besucht?
Ich würde sagen, vielleicht war ich da 10 oder 12 Jahre, so vielleicht in eurem Alter. Mein Großvater ist jeden Tag bis ins hohe Alter in die Fabrik gegangen. Er hat dann auch immer einen Rundgang gemacht, das gehörte zu seinen Aufgaben.Wie war er, können Sie uns ein bisschen über ihn erzählen?
Erstmal hatte er eine tiefe Stimme gehabt und so einen leichten hessischen Akzent. Er fand es gut, diesen Dialekt zu sprechen, weil er sehr volksverbunden war. Er kannte damals über 2000 Mitarbeiter persönlich. Er wusste, wo sie herkamen, ob der Vater schon bei Leitz war... Er wurde quasi so betrachtet wie ein Vater der Familie.
Hat Ihr Großvater Leica gegründet?
Nein. Es gab hier in Wetzlar einen begnadeten Physiker, Carl Kellner hieß er. Er hat die Mikroskop-Objektive berechnet. Es war ein sehr kleiner Betrieb, der nannte sich Optisches Institut und wurde 1849 gegründet. Mein Urgroßvater hat sich sehr für die Feinmechanik und Optik interessiert und hat ? da lebte Carl Kellner schon nicht mehr ? das Optische Institut übernommen und nach seinem Namen umbenannt.
Warum heißen die Kameras Leica? Das ist eine Zusammensetzung aus zwei Namen: Leitz und Camera, Lei-ca.
Hatten Sie schon mal einen Job bei Leica?
Ja. Ich bin 1966 in die Firma eingetreten und bin bis 1986 geblieben. Da war ich von 1972 bis 1986 Geschäftsführer, einer von fünf Geschäftsführern.
Wir sind in Wetzlar an einem großen Bau, wo Leica dran steht, vorbeigefahren...
Das sind zwei Hochhäuser, sie sind damals unter meinem Großvater gebaut worden, das war 1935 und 1938. Also, als die Leica 1925 auf den Markt kam, da hatte die Firma Leitz 1200 Beschäftigte. 1938, als diese fertig waren, hatte sich diese Zahl verdreifacht. Da kann man mal sehen, welchen enormen Erfolg die Leica hatte.
Ihr Großvater hat während der Zeit des Nationalsozialismus vielen Menschen geholfen.
Ja.
Hat er Ihnen davon erzählt?
Nein. Er hat nicht darüber gesprochen. Ich wusste von zwei, drei Fällen. Meine Mutter war bei einer Hilfeleistung für eine Wetzlarer Jüdin dabei, wurde verhaftet, und mein Großvater war auch dabei. Meine Mutter hat dann gesagt: ich war es allein. Der Mann war schon sehr alt, sie sagte: Ich übernehme die volle Verantwortung für diese Geschichte.
Können Sie sich noch daran erinnern, als Ihre Mutter abgeholt wurde?
Ja, daran kann ich mich erinnern. Wir saßen, meine Schwester und ich, in unserem Zimmer. Da kam meine Mutter herein und sagte, sie möchte sich für zwei, drei Tage verabschieden von uns. Hinten waren Männer mit dunklen Ledermänteln, die habt ihr vielleicht schon mal im Film gesehen, die waren von der Gestapo. Die haben sie nach Frankfurt mitgenommen, ins Gefängnis gebracht. Mein Großvater hat alles getan, um sie wieder herauszubekommen, was sehr schwer war.
Wie hat er es geschafft?
Er hat einen guten Freund gehabt. Der Freund hatte wieder Kontakte mit anderen, und mein Großvater hat damals sehr, sehr viel Geld bezahlen müssen, um sie wieder herauszubekommen.
Hatten Sie Angst um Ihre Mutter?
Ja, natürlich.
Bei wem waren Sie in der Zeit?
Da kannst du mal raten.
Bei Ihrem Großvater.
Genau. Das war eine schlimme Zeit. Mein Vater wurde auch im Krieg eingezogen, dann ist meine Mutter mit uns drei Kindern hier nach Wetzlar gegangen. Da lebten mein Großvater, er war Witwer, und der älteste Sohn, und sie war dann die Hausfrau zu der Zeit.
War das schwierig, so wie Ihr Großvater zu handeln, also Leben zu retten?
Ich würde sagen, am Anfang war es vielleicht nicht so schwierig. Es war Kritik an den Nazis, wenn man das machte. Sie sahen das nicht gern. Juden konnten auswandern, aber das große Problem war, dass sie dabei fast ihr ganzes Vermögen verloren haben. Wenn die z.B. ihr Haus verkauft haben, dann konnten sie nicht einfach das Geld zur Bank und nach Frankreich oder sonstwohin bringen. Das ging nicht.
Warum nicht?
Das lief über eine staatliche Bank, die dann viel von dem Geld abgezogen hat, so dass letztlich nur wenige Prozent im Ausland ankamen. Das ist auch der Grund, warum bis, sagen wir mal 1938, nur etwa die Hälfte der in Deutschland lebenden Juden überhaupt von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hat. Also zu sagen, ich gehe aus Deutschland weg, das bedeutete, ich verliere meine Freunde, ich verliere meine Heimat, ich verliere mein Vermögen, ich muss in ein anderes Land, ich kann möglicherweise gar nicht in meinem Beruf arbeiten, das ist eine sehr, sehr schwere Sache. Aber, nach 1938 wurde es dann sehr gefährlich.
Wie hat Ihr Großvater das dann gemacht?
Als z.B. die Firma Leitz diese Hochhäuser, von denen wir sprachen, gebaut hat, wusste mein Großvater, dass die jüdischen Geschäfte große Probleme hatten. Da hat er Joseph Rosenthal ? so hieß er ? bestellt, er hatte ein Geschäft für Türen- und Fensterbeschläge, und hat ihm gesagt: ?Pass auf, ich kann dir nicht alles geben, aber die Hälfte aller Fenster- und Türenbeschläge für dieses Hochhaus kannst du als Auftrag haben.?
Kamen sie alle aus Wetzlar, denen er geholfen hat?
Nicht nur. Mein Großvater hatte in Frankfurt einem jüdischen Fotohändler, den er auch gut kannte, Hilfe angeboten, nach USA auszuwandern. Das ging nicht nur darum, dass er ein Empfehlungsschreiben bekommt, sondern er musste sein Geschäft schließen, Waren zurückgeben, in den USA wieder neue Waren bekommen, also eine relativ komplizierte Sache. Dann ist dazwischen diese furchtbare Reichskristallnacht gekommen, wo dann viele Synagogen angesteckt worden sind. Man hat auch sehr viele jüdische Geschäfte kaputt geschlagen.
Auch sein Geschäft?
Traurigerweise ist auch dieses Geschäft Ehrenfeld in Frankfurt damals zerstört worden. Also, jedenfalls mit allen möglichen Tricks konnte die Familie Ehrenfeld dann doch nach USA kommen und hat dann ein sehr großes Geschäft aufgebaut, was heute noch existiert.
Hätte Ihr Großvater verhaftet werden können?
Ja. Wenn unter den Empfehlungsschreiben für diesen Herrn Ehrenfeld sein Name drunter gestanden hätte, dann hätte er genau so gut verhaftet werden können. Die Nazis hat es auch sehr gestört, dass an der Spitze von diesem relativ großen Unternehmen ein Mann war, der 100prozentiger Demokrat war. Das Schlimme war noch, dass ein Verwandter von meinem Großvater Generaldirektor war, direkt unter ihm, und der war Schweizer. Die haben immer gefragt, warum habt ihr denn da keinen Deutschen sitzen. Sie haben es sehr missbilligt, dass mein Großvater nicht gesagt hat, also, du musst Deutscher werden oder du musst gehen.
Wussten die Nazis, dass Ihr Großvater geholfen hat?
Ja, natürlich.
Warum haben sie ihn nicht verhaftet?
Bis 1938 hat man das sehr kritisch gesehen, aber dann wurde das sehr ernst, und die ganze Art, wie die Nazis das gemacht haben, wurde von Jahr zu Jahr schärfer. Nach Kriegsbeginn besonders aber ab 1942-43 konnte man schon bei dem kleinsten Vergehen vor den Volksgerichtshof kommen. Wer da war, der hatte wenig Chancen. Die Nazis hatten natürlich auch Angst, hier in Wetzlar große Turbulenzen zu machen. Mein Großvater war äußerst beliebt. Ich weiß nicht, wie die Belegschaft von Leitz reagiert hätte, wenn sie ihn mitgenommen hätten. Jedenfalls hätte es da Unruhen gegeben. Aber sie haben sich auch nicht gescheut, meine Mutter zu verhaften.
Wer wusste sonst davon?
Die engsten Mitarbeiter. Dann waren noch drei, vier andere Personen, die das wussten. Es gab im Werk auch Spione. Das ist natürlich für euch unvorstellbar, was da passiert ist.
Hat das Unternehmen noch weiter, also im Krieg, mit anderen Ländern gehandelt?
Also, erstmal 1939, als der Krieg begann, war natürlich sofort dir Verbindung mit England abgeschnitten. Deutschland war ab Ende 1941 auch im Krieg mit den Vereinigten Staaten, und der Export kam zum Erliegen, das ganze Geschäft mit der Leica ging dem Ende zu und war 1942 fast Null. Es hieß, es sei nicht kriegswichtig, und die ganzen Maschinen wurden in einem Bunker gelagert. Leitz musste dann auf Anweisung der Regierung andere Sachen machen, z. B. Militäroptik, das heißt also Zielfernrohre oder so etwas für Panzer usw. Da konnte man nicht sagen, wir machen das nicht, das hätten die nicht geduldet. Am Ende des Krieges ? das war natürlich ganz schlimm ? stand man also vor einem Nichts. Mit allen möglichen Tricks konnte die Familie Ehrenfeld dann doch nach USA kommen.
In der Zeitung stand, dass 50 bis 60 Menschen gerettet wurden, sind es noch mehr?
Ja. Also, der Rabbiner Frank Dabba Smith kommt auf 87 Personen insgesamt, die Ernst Leitz gerettet hat, davon 69 aus rassischen Gründen, also Juden, Halbjuden usw. Aber jetzt geht die Liste weiter. Ich habe allein in den letzten drei Wochen von zwei neuen Fällen erfahren.
Wie suchen Sie denn?
Es gab z. B. einen Zeitungsartikel über meinen Großvater. Darauf hin hat einer einen Brief geschrieben, er kennt einen Mann aus Gießen, er hat für ihn einen Koffer nach Holland mitgenommen, als dieser nach England ausreisen musste, und er hat ihm damals erzählt, dass mein Großvater ihm eine Leica-Ausrüstung gegeben hat, also geschenkt hat und gesagt, vielleicht kannst du dir damit in England etwas mit Fotografieren verdienen.
Haben Sie noch Kontakt zu anderen Überlebenden?
Ja. Nun ist es natürlich so, dass die meisten von denen gestorben sind. Wir hatten aber neulich hier eine Familie, die jetzt in Holland lebt. Der Vater hatte damals Abitur mit fast nur Einsen gemacht, also ganz außergewöhnlich. Er wollte Physik studieren, aber die Nazis haben den Juden den Zugang zu den Universitäten verwehrt. Er ist dann hierher in die Firma gekommen. Das war ein ganz, ganz intelligenter Mann,
der bei Leitz Tolles hätte machen können, Kameras bauen oder sonst was. Mein Großvater hat ihm geholfen, nach England zu fliehen und es ist ihm gelungen, seine Eltern und seinen Bruder nachzuholen.
Kennen Sie andere Unternehmer, die ähnliches gemacht haben?
Genau nicht. Es wird vermutet, dass Robert Bosch, der Chef der Firma Bosch in Stuttgart, auch Juden unterstützt hat in der Zeit des Nationalsozialismus. Es wird sogar gesagt, dass Leute in der Führung von Robert Bosch beteiligt waren am Aufstand gegen Hitler. Sonst sind mir solche Fälle nicht bekannt.
War das ungewöhnlich, was Ihr Großvater gemacht hat?
Mein Großvater war ein Mensch mit großem Herzen. Er konnte nicht ertragen, wenn jemand gelitten hat, egal ob der nun reich oder arm war, und hat dann immer geholfen. Was er tun konnte, hat er getan.
Knut Kühn-Leitz hat ein Buch über seinen Großvater herausgegeben, wo man auch sehr viel über die Firma Leitz erfährt. Darin sind auch Briefe von ausgewanderten Juden, die sich bei ihm bedanken und über ihr neues Leben berichten.
Interview: Alina, Anastasia, David & Sidney
Zeichnungen: Chloé, Emil, Emmanuelle & Zoë
Text und Fotos © Grand méchant loup | Böser Wolf
Ein besonderer Dank an Knut Kühn-Leitz für den Empfang so wie für die Erlaubnis der Nutzung verschiedener Fotos und sein Buch.
September 2008