Interview mit Simone Veil, einer außergewöhnlichen Frau
Simone Veil war nicht nur eine bekannte Politikerin in Frankreich und die erste Präsidentin des europäischen Parlamentes, sie war vor allem eine Kämpferin. Sie wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und verlor einen Teil ihrer Familie, ihren Vater, ihren Bruder, ihre Mutter, die auch deportiert wurden. Und doch hat sie sich immer für die deutsch-französische Versöhnung eingesetzt. Simone Veil sprach vor einigen Jahren mit den Kinderreportern des Bösen Wolfes über diese Zeit und über ihr Leben.
Welchen Beruf wollten Sie erlernen, als Sie klein waren?
Als ich in eurem Alter war, hatte ich noch keine klaren Vorstellungen. Meine Mutter war Hausfrau. Im Alter von 14, 15 Jahren wollte ich Anwältin werden. Ich habe immer Lust gehabt, mich für Recht und Gerechtigkeit einzusetzen.
<- Fotos: Grand méchant loup | Böser Wolf e.V.
Sie haben gesagt, dass Sie keine Lügen mögen. Warum?
Ich erinnere mich noch daran, als kleines Mädchen meine Eltern angelogen zu haben. Irgendetwas war kaputt gegangen, und ich habe gesagt, dass ich es nicht war. Ich habe das immer als schwere Last empfunden, denn ich hatte Angst, dass mir meine Eltern kein Vertrauen mehr schenken würden.
Waren Sie die erste Frau in einem Ministeramt?
Nein, es gab bereits zuvor eine Ministerin in Frankreich, das war 1947. Valéry Giscard d'Estaing, als er Präsident der Republik wurde, entschied Frauen in seine Regierung aufzunehmen. So bin ich Ministerin geworden, auch wenn ich bis dahin nicht politisch tätig war.
Haben Sie sich gefreut, die erste Präsidentin des Europäischen Parlaments zu sein?
Ich glaube, die erste Präsidentin des Europäischen Parlaments zu sein, hat mich mehr geprägt als das Ministeramt. Das war als Symbol sehr wichtig für mich. Ich bin deportiert worden, der Großteil meiner Familie ist durch Deportation umgekommen. Im Krieg von 1914 bis 1918 gab es Millionen von Toten, vor allem in den Schützengräben. Zwischen 1939 und 1945 war die Barbarei noch viel schlimmer. Diese beiden Kriege sind vorrangig aus einem Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland entstanden und haben beinahe alle Länder in der Welt mitgerissen. Daher dachte ich, dass es keine Revanche gegen die Deutschen geben dürfe, sondern ganz im Gegenteil, dass es am wichtigsten wäre, sich zu versöhnen und Europa aufzubauen, damit unsere Kinder nicht solche Schicksale erleiden müssen.
Ist Versöhnung etwas Bedeutendes für Sie im Leben?
Ja, sehr wichtig, weil Versöhnung die einzige Möglichkeit ist, einen neuen Krieg zu verhindern. Das ist das erste Mal, dass es während einer so langen Periode keinen Krieg zwischen europäischen Ländern gab. Krieg ist grauenhaft. Auf beiden Seiten muss man kämpfen und sich gegenseitig töten. Es gibt da den sehr schönen Film "Merry Christmas" über die Verbrüderungen während des Ersten Weltkrieges. Am
Heiligabend haben die französischen, deutschen und schottischen Soldaten gesagt: "Wir machen eine Waffenruhe." Und am nächsten Tag haben sie weiter gekämpft und sich gegenseitig umgebracht. Generationen wurden vom Krieg für das Leben sehr geprägt.
Was hat Ihnen in Ihrem Beruf als Ministerin nicht gefallen oder was hat Sie gestört?
Als Minister muss man wichtige Entscheidungen treffen, nicht für sich selbst oder die eigene Familie, sondern für sein Land. Das ist anstrengend, denn man trägt das Gewicht der Verantwortung.
Finden Sie, dass es genug Frauen in der Politik gibt?
In Deutschland ist der Frauenanteil in der Politik ein bisschen größer. Es ist ein Fortschritt – auch wenn die Frauen weit davon entfernt sind, die Mehrheit in der Politik zu stellen. In Frankreich gibt es viel weniger politisch aktive Frauen und man hat den Eindruck, dass die Männer überhaupt noch nicht bereit sind, ihnen etwas Platz einzuräumen.
Haben Sie mit Ihren Kindern und Enkelkindern darüber gesprochen, was Sie während des 2.Weltkrieges in Auschwitz erlebt haben?
Was meine Enkelkinder angeht, je nachdem. Ich habe noch sehr junge Enkel, ein Mädchen ist gerade erst sechs Jahre alt geworden, also habe ich mit ihm nicht darüber gesprochen. Mit den anderen schon, aber ich rede nur mit ihnen darüber, wenn ich spüre, dass sie das Bedürfnis haben, von mir darüber etwas erfahren zu wollen. Ich spreche besonders über meine Eltern, die durch die Deportation umgekommen sind, damit sie wissen, wer die Großeltern waren, die sie niemals kennen lernen werden. Ich liebte meine Mutter über alles, sie war ein außergewöhnlicher Mensch. Mein Bruder ist verschollen, auch mein Vater, bei der Deportation, und ich will nicht, dass sie vergessen werden. Ich habe mich mit den Deutschen versöhnt, die Deutschen heute sind nicht für die Vergangenheit verantwortlich, aber man darf nicht vergessen, denn gerade wenn man vergisst, was passiert ist, kann es wiederkommen.
Welches ist Ihr Lieblingstier?
Ich habe eine kleine Katze, die ich sehr liebe. Seit die Kinder aus dem Hause sind, haben wir Hunde gehabt, aber zwei von ihnen wurden überfahren. Dann haben wir uns überlegt, dass es mit einem Hund wegen unserer vielen Reisen zu kompliziert ist. Seitdem haben wir Katzen. Eine kleine Katze wartet abends auf uns.
Und wie heißt sie?
Ich weiß nicht. Alle Kosenamen, die es gibt.
Was gibt Ihnen die Kraft, um das alles zu schaffen, was Sie getan haben?
Ich weiß es nicht, nichts Besonderes. Ich glaube, ich kann gut kämpfen. Ich habe es immer gemocht, mich für meine Ideen oder für bestimmte Dinge einzusetzen. Ich liebe es, im Widerspruch zu allgemeingültigen Dingen zu sein, deren ich mir aber nicht sicher bin. Schon als Kind habe ich mit Vorliebe gegen Windmühlen gekämpft...
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Das gesamte Interview mit Simone Veil in pdf-Form lesen >
Das Interview mit Valéry Giscard d'Estaing, Staatspräsident von Frankreich, als Simone Veil Gesundheitsministerin war (sie war die zweite Frau auf einem Ministerposten in Frankreich) >
Interview: Alina, David, Anastasia
Zeichnung: Alina
Text, Zeichnungen und Foto: © Grand méchant loup | Böser Wolf. Januar 2016