Wie mein Opa durch sein Holzbein den Krieg überlebte
Ein Interview der Schülerreporter des Bösen Wolfes mit Nikolaus Nützel, Journalist und Autor
Nikolaus Nützel, erzählt in seinem Buch „Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg“ von seinem Großvater August, der drei Wochen nach Beginn des Ersten Weltkrieges – am 24. August 1914 – sein linkes Bein verlor. Warum der Opa trotzdem nicht gegen den Krieg war, wie selbstverständlich man früher in den Krieg zog und was der Erste Weltkrieg mit uns zu tun hat, darum geht es in diesem Buch.
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Sie erzählen viele einzelne Geschichten in Ihrem Buch. Glauben Sie, dass man Jugendliche besser erreicht, wenn man etwas persönlicher schreibt, so wie Sie es tun, und nicht nur Fakten darlegt?
Ja, auf jeden Fall. Ich wollte ja kein Schulbuch schreiben, in dem geschichtliche Daten drin sind. Das passiert mir nach wie vor ganz oft, dass ich lese oder im Radio höre: „Da ist dieses und jenes Ereignis gewesen, der und der König hat das gemacht, der und der General hat dieses gemacht“. Aber die Frage, was hat es mit mir zu tun, fehlt ganz oft. Bei einer Schulveranstaltung habe ich einen 15-Jährigen, dessen Familie aus Bosnien kam, gefragt, ob Bosnien etwas mit dem Ersten Weltkrieg zu tun hatte. Da hat er mit den Schultern gezuckt und „Nö“ gesagt. Es hat aber ganz viel damit zu tun, weil in Bosnien Sarajevo liegt, die Stadt, in der das berühmte Attentat stattgefunden hat. Oder wenn ich in Frankreich mit meinen Kindern unterwegs bin und wir dort als Deutsche etwas anders angeschaut werden als Italiener oder Engländer oder Holländer, dann hat das damit zu tun, dass Deutsche 1870/1871 gegen Frankreich gekämpft haben ebenso wie im Ersten und im Zweiten Weltkrieg.
In Ihrem Buch benutzen Sie oft die Ich-Form, sind Sie es wirklich?
Wenn ich „Ich“ schreibe in einem Sachbuch, da muss es auch um mich gehen. Das ist eine Grundregel.
Warum haben Sie sich für Ihren Großvater interessiert, Sie haben ihn ja kaum gekannt…
Mein Opa ist gestorben, da war ich zwei Jahre alt. Für mich war er eigentlich ganz weit weg. Aber dann habe ich vor ein paar Jahren bemerkt, irgendwie sind Großeltern nicht weit weg von einem, sie haben etwas mit einem zu tun. Und da habe ich angefangen mich dafür zu interessieren, was wohl in dem Kopf meines Opas vorgegangen ist. Ich habe meine Mutter gefragt, was sie eigentlich noch von seinem Leben noch so weiß.
Am gleichen Tag, als Ihr Opa das Bein verlor, wurde gefeiert. Was wurde da gemacht?
Hat sich Ihr Opa jemals gegen den Krieg ausgesprochen?
Davon weiß ich nichts. Er ist ja später bekennender Nationalsozialist geworden. Er hat das, was die Nazis gemacht haben, richtig gefunden und unterstützt. Wobei, als ein Sohn sich mit 17 Jahren freiwillig für den Zweiten Weltkrieg gemeldet hat, waren meine Großeltern nicht glücklich darüber. Sie hatten Angst um sein Leben. Das ist ja oft eine merkwürdige Spaltung in den Köpfen der Leute. Sie sagen: wir finden den Krieg richtig, aber wir möchten, dass keiner unserer Verwandten dabei stirbt.
Am Anfang Ihres Buches geht es um gefallene Soldaten. Wie haben Sie die Soldaten ausgesucht?
Ich bin hier in München über zwei Kriegsgräberfriedhöfe gegangen. Ich habe mir die Namen angeschaut und das Alter, in dem sie gefallen sind. Franz Kurringer, den ich in meinem Buch vorstelle, war erst 17 Jahre alt, als er gefallen ist. Damit kann ich jungen Leuten klar machen, die 14 oder 15 Jahre alt sind: 17 Jahre alt ist ja ganz schön nah dran an dir. Aber auch Erwachsene kann man dadurch berühren, wenn man ihnen sagt, das ist ein 17-Jähriger gewesen.
In Frankreich hat der 100. Jahrestag des Kriegsbeginns eine große Bedeutung, in Deutschland scheint es nicht so zu sein, warum?
Na ja, die Deutschen können auf die Kriege, an denen sie beteiligt waren, nicht stolz sein. Erstens, weil sie die Kriege angefangen haben. Heute ist es verboten in Deutschland, einen Krieg vorzubereiten, das war vor 100 oder vor 70 Jahren anders. Das Zweite ist, die Deutschen haben die Kriege verloren, und das ist nichts, woran man gerne denkt.
In Deutschland ist die Erinnerung an den Krieg immer mit Trauer, Schuld und Scham verbunden. In Frankreich, aber auch in den USA und Russland ist der Krieg sicher auch mit Trauer verbunden, aber sicher nicht mit Scham oder Schuld.
Verschiedene Bezüge zum Ende des Ersten Weltkrieges
Wann ist ein Krieg denn zu Ende, wenn es einen Friedensvertrag gibt?
Ein Krieg ist zu Ende, wenn die Kräfte, die den Krieg herbeigeführt haben, wirklich besiegt sind. Wenn sie in der Gesellschaft auch keinerlei Unterstützung mehr finden. Das war in Deutschland zum Beispiel 1945 der Fall. Die Nazis hatten überhaupt keine Macht mehr, die Deutschen wurden komplett entwaffnet und es gab in der deutschen Bevölkerung 1945 auch wirklich keinerlei Kräfte, die gesagt haben, wir müssen unbedingt gegen die Franzosen, die Russen, die Engländer, die Amerikaner kämpfen.
Wie wichtig ist die Europäische Union für den Frieden?
Sehr wichtig glaube ich. Weil sie etwas selbstverständlich macht, was früher undenkbar war: Dass verschiedene Länder sagen, wir haben ein gemeinsames Ziel, viele gemeinsame Ziele, und darüber reden wir die ganze Zeit, als Politiker, aber auch als Bürger. Wir sind eine Union und nicht verschiedene Völker, die sagen, dass sie sich hassen. Also da halte ich es für eine ganz, ganz wichtige Sache. Es ist auch eine richtige Entscheidung, dass die Europäische Union vor einiger Zeit den Friedensnobelpreis bekommen hat.
Aber ich finde, dass man sich immer wieder klar machen muss, dass das ein unglaublicher Fortschritt ist gegenüber den Zeiten, – die jetzt mal gerade zwei Generationen her sind – wo sich die Franzosen und die Deutschen hassten. Das ist für uns ein irrsinniger Gedanke heute. So ein Gespräch, wie wir es führen, das wäre vor 70, 80, 100 Jahren undenkbar gewesen. Ich finde, es ist eine großartige Sache, ein fantastischer Fortschritt.
Meinen Sie, dass ein Buch wie Ihres ein Beitrag für den Frieden ist?
Ich frage mich immer bei Büchern, was macht es in den Köpfen seiner Leser. Ich werde auch öfters in Schulen eingeladen, um ein bisschen Nachdenklichkeit anzuregen. Wenn ich mit jungen Leuten aus türkischen Familien zusammen bin und ich sie frage, was war denn eigentlich mit der Türkei damals los, was hat sich da abgespielt, was hat das mit euch zu tun?
Das sind Kleinigkeiten, die man anregen kann. Jeder Einzelne muss schauen, was er für den Frieden tun kann. Und einen kleinen Beitrag liefere ich dazu, indem ich dieses Buch geschrieben habe.
Interview: Emmanuelle, Gaïa und Julienne (Kinderredaktion Grand méchant loup)
Bildnachweis: Zeichnungen: Ada, Alina, Alice und Clara (Kinderredaktion Grand méchant loup)
Foto Grab: Nikolaus Nützel
Umschlag des Buches: Nikolaus Nützel und dpa Picture-Alliance GmbH
© Grand méchant loup | Juni 2014