Ich wollte soviel wie möglich herausfinden, um den Krieg zu verstehen
Ein Interview der Bösen Wölfe mit dem Schriftsteller Jean Echenoz über seinen Roman 14, der vom Ersten Weltkrieg handelt.
Wieso haben Sie sich dafür entschieden, einen Roman über den Ersten Weltkrieg zu schreiben?
Das war eher dem Zufall zu verdanken. Ich bin auf das Kriegstagebuch eines Wehrpflichtigen gestoßen, er war der Großonkel meiner Lebensgefährtin. Dieses Tagebuch fängt am Tag der Mobilmachung an, da er am 1. August 1914 in den Krieg gezogen ist. Er ist nach dem Waffenstillstand von 1918 dann noch bis 1919 in der Armee geblieben.
Und warum?
Weil der französische Staat anscheinend ein bisschen überfordert war und nicht die Mittel hatte, die Soldaten von der Front zurück zu transportieren, auch nicht ihre Rente zu übernehmen. Eine große Anzahl von Soldaten ist vergeblich geblieben.
Sie waren in Kasernen stationiert und machten gar nichts, ich glaube, sie marschierten im Hof herum, sie hatten einen militärischen Alltag, vielleicht um für Sicherheit zu sorgen, aber das weiß ich nicht genau …
Können Sie uns etwas über den Großonkel sagen, der Soldat war? Über sein Kriegstagebuch ?
Er war ein einfacher Soldat, um die 20. Er war Buchhalter und hat ein Kriegstagebuch geführt, in dem er notierte, was er erlebte.
Und wovon erzählt er?
Er erzählt gar nicht so viel. Er schreibt übers Wetter, manchmal macht er Anspielungen auf den Krieg, aber man hat nicht wirklich den Eindruck, dass er gekämpft hat. Ich weiß nicht, welche Rolle bei solchen persönlichen Aufzeichnungen die Zensur bzw. die Selbstzensur gespielt haben.
Was hat Sie dazu gebracht, das Tagebuch zu lesen?
Es waren ja die Erinnerungen eines Angehörigen meiner Lebensgefährtin und so habe ich das Tagebuch aus Neugier gelesen. Ich habe festgestellt, dass ich kaum historische Kenntnisse über den Ersten Weltkrieg hatte. Nach der Lektüre habe ich Lust bekommen, es zu transkribieren, das bedeutet, dass ich alles abgetippt habe. Das hat es mir ermöglicht, die Frontbewegungen auf einer Landkarte zu verfolgen, den Weg eines beliebigen Soldaten, zu sehen, an welche Orte der Front er versetzt wurde, wann es in den Schützengräben nicht mehr voran ging. Ich habe angefangen, mir alte Landkarten zu besorgen und viele historische Dinge über den Ersten Weltkrieg zu lesen. Und danach habe ich Lust bekommen, Texte und Romane von deutschen oder französischen Schriftstellern zu lesen, die selber im Krieg gekämpft hatten.
Dachten Sie da schon daran, einen Roman zu schreiben?
Nein. In dieser Phase war es nur ein Forschen aus persönlichem Interesse, aus Wissensdurst. Ich habe sehr viel erfahren und habe dann angefangen, Bilder zu suchen, davon gibt es sehr viele, und auch Filmmaterial. Ich wollte so viel wie möglich finden, um zu verstehen. Nach und nach, durch all die Dinge, die ich lernte, die ich verstand, manchmal auch nicht verstand, bekam ich Lust, einen fiktiven Text zu schreiben, der auf all dem beruhte, was ich gelesen hatte.
Wie viel Platz nimmt die historische Wirklichkeit in Ihrem Roman ein?
Ich glaube, dass der Werdegang meiner Figur nur wenig von dem Tagebuch beeinflusst ist, das mir in die Hände gefallen war. Darüber hinaus gab es ein Mosaik an Informationen, die ich hier und da gefunden hatte. Ich glaube, was das Kriegerische angeht, gibt es fast nichts Fiktives, bis auf das kleine romanhafte Szenario mit den zwei Brüdern und dem Mädchen, um die Geschichte gewissermaßen zusammenzuhalten.
Ihr Roman trägt den Titel 14. In Deutschland gibt es für diesen Krieg nur einen Namen: Erster Weltkrieg. In Frankreich gibt es viele Bezeichnungen: der Große Krieg, „la Der des Ders“ (der Letzte der Letzten), der Krieg von 14, 14-18. Warum die ganzen Namen ?
Man nannte ihn den Großen Krieg, weil er ein historischer Krieg war, ein sehr mörderischer Krieg, ein Krieg, der unvorstellbar viele Leben forderte. 1914 ändert sich die Kriegsführung, es ist der erste industrielle Krieg, erstmals wird die Luftfahrt eingesetzt, damals werden die Panzer erfunden. Ebenfalls eine große Neuerung war die Anwendung von Gas bei den Kampfhandlungen. Andererseits gab es noch das Erbe der alten Kriegstechniken wie die Kavallerie. Auf Französisch nennt man den Ersten Weltkrieg „La Der des Ders“, den allerletzten Krieg, weil man damals dachte, dass es keinen Krieg geben würde. Historisch gesehen ist diese Bezeichnung absurd, denn viele Historiker sehen die beiden Weltkriege nicht als zwei voneinander getrennte Kriege, sondern als einen einzigen Krieg, der dann 30 Jahre dauerte. Tja, und „der Krieg von 14“, „14-18“, das erklärt sich von selbst.
Und Sie haben sich für 14 entschieden …?
Ich war auf der Suche nach einem Titel und da in Frankreich am häufigsten der Ausdruck „der Krieg von 14“ benutzt wird, bin ich auf 14 gekommen. Außerdem hat es mir vom Grafischen her gefallen, dass es eine Zahl ist, .die da auf dem Umschlag steht.
Glauben Sie, dass Kinder und Jugendliche diesen Titel sofort verstehen?
Es gab sogar Journalisten, die dachten, es wär mein 14. Buch. In meiner Jugend gehörte der Erste Weltkrieg fast zur Antike. Ich stelle fest, dass im Verlauf der Zeit die Abscheulichkeiten des Krieges immer mehr in unser Gewissen rücken, viel mehr als sie es vor 40, 50 Jahren getan haben. Ich bin 1947 geboren, die Erinnerungen von meinen Eltern oder meinen Großeltern bezogen sich eher auf den Zweiten Weltkrieg. Dieses Jahr, zur Hundertjahrfeier, gibt es hunderte von Büchern darüber, so wird uns bewusst, wie schrecklich es damals war.
Hat man in Ihrer Familie über den Ersten Weltkrieg geredet?
In meiner Familie nicht. Mein Großvater väterlicherseits war Militärarzt, er hat im Ersten Weltkrieg mitgekämpft, meine Großmutter folgte ihm als Krankenschwester an die Front. Mein Großvater mütterlicherseits hat nicht gekämpft. In meiner Familie gab es Geschichten über Leute, die sehr krank zurückgekehrt sind, traumatisiert waren, aber in meiner Jugend standen diese Erzählungen eher im Hintergrund.
Mir ist aufgefallen, dass Tiere in Ihrem Roman eine große Rolle spielen. Warum ?
Das war eine meiner ersten Ideen. Der Krieg fand zumeist auf dem Land statt, also gab es sehr viele Tiere, die im Krieg mitgewirkt haben. Seien es Vögel für die Übermittlung von Nachrichten oder Hunde und Pferde. Was wird aus all diesen Tieren in dieser nun verwüsteten Landschaft? Es gibt auch Tiere in den Schützengräbern, die zu Feinden werden, wie Ratten und alle anderen Schädlinge. Das findet man sehr oft in den Berichten der Soldaten wieder. Deshalb habe ich mir gedacht, dass ich ein Kapitel machen muss, das sich auf die Tiere im Krieg bezieht.
Sind die Figuren aus Ihrem Roman stellvertretend für die damalige Gesellschaft?
Ich denke nicht, weil ein riesiger Anteil der Männer, die in den Krieg gezogen sind, Bauern waren. Für meine Figuren habe ich eher Handwerkerberufe ausgesucht, ich weiß nicht genau warum. Meine Idee war: drei-vier Personen, die sich kennen und in den Krieg ziehen. Es ist kein Essai über den Krieg, es geht vielmehr darum, sich den Werdegang von verschiedenen Menschen vorzustellen und ein paar Situationen aufzugreifen. Zum Beispiel geht einmal eine der Figuren einfach spazieren und dann wird er des Verrats bezichtigt. Eigentlich habe ich versucht, möglichst nah an dem, was ich gelesen und erfahren hatte, zu bleiben.
Um wirklich alles zu erfassen, hätte man ein viel umfangreicheres Buch schreiben müssen. Vielleicht war ich dazu nicht fähig, vielleicht hatte ich auch einfach keine Lust. Die Idee gefiel mir, ich weiß nicht, ob sie gut ist, ein so gewaltiges historisches Ereignis, auf ganz wenigen Seiten zu kürzen.
Interview : David (Kinderredaktion Böser Wolf)
Zeichnungen : Félix und Clara (Kinderedaktion Böser Wolf )
Karte Verdun : Archiv Böser Wolf
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