„14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs“
Eine Arte-Doku
Ein Interview der Bösen Wölfe mit Jan Peter (Filmemacher) und Yury Winterberg (Historiker)
Wie ist die Idee zum Film entstanden?
Jan Peter: Die Idee kam von unserem Produzenten Gunnar Dedio und Arte Deutschland. Sie wollten anhand von Tagebüchern den Ersten Weltkrieg erzählen. Wir beide hatten eine Idee entwickelt, in Paris, London, Berlin, Wien, Sankt Petersburg etwas über den Sommer 1914 zu machen. Dann sind wir in das Projekt von Gunnar hineingewandert.
Yury Winterberg: Das Tolle und Schöne an dem Projekt war, wir konnten uns ein bisschen aussuchen, was wir am Ersten Weltkrieg interessant finden. Was wir unglaublich spannend fanden, war die Frage: Was hat der Krieg aus den ganz einfachen Leuten gemacht, wie sind sie mit dem ganzen Schrecken umgegangen, wie sind sie in den Krieg reingegangen und wie sind sie aus dem Krieg rausgekommen? Und das erzählen diese Tagebücher unglaublich toll und viel besser als alle Berichte über Schlachten.
Wie sind Sie an das ganze Material gekommen und wie haben Sie es dann sortiert?
Jan Peter: Yury - vor allem - hat erst mal ganz viel quergelesen, man kann ja nicht einfach 1000 Tagebücher vom Anfang bis Ende lesen, da wird man ja 1000 Jahre alt!
Yury Winterberg: Ja, das auszuwählen war eine Teamarbeit, wir hatten irgendwann eine riesige Datenbank. Das Spannende und Schwierige war daran, nicht nur Tagebücher aus den uns zugänglichen Sprachen (Deutsch, Französisch, Englisch, Russisch) zu erfassen. Aber wie geht man mit prachen wie Chinesisch oder Japanisch, Slowakisch oder irgendwelchen Maori-Dialekten um? Es war wichtig, ein großes Team von Leuten zu finden, die in diesen Ländern leben. Es mussten keine Historiker sein, sie mussten sich aber für das Thema und für das, was in ihrem Land passiert ist, interessieren; und dann mussten sie in die Archive gehen und dort suchen.
Jan Peter: So ging es weiter mit dem Archivmaterial (Film): bestellt, bestellt, und noch mal bestellt, alles was es gibt, und dann haben wir erst mal geguckt, was gibt es besonders viel. Die Engländer zum Beispiel haben sehr viel und sehr gut gedreht, die Russen dagegen sehr wenig, da mussten wir suchen, wo finden wir bessere Archive für russische Filme? Wir haben herausgefunden, dass irgendein Graf aus dem zaristischem Russland ganz viel Filmmaterial in die USA gebracht hat. Das größte russische Filmarchiv befindet sich in Texas! Das sind so Wege, die völlig verschlungen sind, die auch das 20. Jahrhundert zeigen, und so haben wir uns nach und nach das Filmmaterial zusammengesucht.
Und wie lange hat das gedauert?
Jan Peter: Vier Jahre insgesamt.
Yury Winterberg: So lange wie der Krieg. (lacht)
Und warum haben Sie sich dafür entschieden, Archivmaterial und neue Verfilmungen zu mischen?
Jan Peter: Wir haben von vornherein gewusst, dass wir vieles inszenieren müssen. Es war uns wichtig zu vermitteln, dass es nicht ausgedacht ist, und deshalb sind diese Archivbilder sozusagen wie Pflöcke in die Wirklichkeit gerammt. Indem wir das mixen, zeigen wir: Das ist ein Schauspieler, der das erlebt, aber die Menschen vor hundert Jahren, die haben das wirklich so erlebt - die sahen genauso aus, die haben genauso geguckt, die haben genauso gefühlt. Das ist der wichtige Punkt.
Haben Sie auch in Ihren eigenen Familien nachgeforscht, wo sie 1914 waren, was sie da gemacht haben, ob sie im Krieg waren?
Yury Winterberg: Meine Großmutter war 15, als der Krieg ausbrach, und die hat ein ganz, ganz dickes Tagebuch geschrieben, noch in der alten deutschen Schrift, in Sütterlin. Da musste ich mich ganz schön durchkämpfen, um das alles zu lesen. Ihre erste Liebesgeschichte spielte sich während des Krieges ab, das war ein junger Kriegsfreiwilliger, der war in ihrem Haus stationiert. Sie hat ihren ersten Kuss von ihm bekommen und dann ist er in den Krieg gezogen und hat nie wieder von sich hören lassen. Sie hat ihr ganzes Leben lang nicht herausgefunden, ob er sich nicht meldete, weil er nichts von ihr wissen wollte oder weil er gefallen ist. Das hat sie bis zu ihrem Tod beschäftigt. Das sind solche Geschichten, die hat fast jeder von uns im Team gefunden. Auch weil es so persönlich war, war es besonders interessant, bei diesem Projekt mitzumachen.
Jan Peter: Das Team ist mit dem Erzählen dieser Geschichten zusammengewachsen. Wir sind ja Franzosen, Engländer, Deutsche und wir haben uns dann die Geschichten von unseren Urgroßeltern erzählt. Der Urgroßvater des ersten Regieassistenten, des Franzosen Frédéric Goupil, hat bei Verdun gekämpft, der Urgroßvater meines persönlichen Assistenten, des Engländers Jean-Michel Johnston, hat ebenfalls in Verdun gekämpft. Und mein Urgroßvater hat in Suhl, in Thüringen, Gewehre hergestellt, mit denen auf beiden Seiten geschossen worden ist. Wir haben bemerkt, wie eng wir plötzlich alle miteinander verknüpft sind.
Ist es wichtig, auch heute noch daran zu erinnern, wie die Situation vor hundert Jahren war?
Jan Peter: Es ist einfach wichtig, Geschichten zu erzählen von Leuten, die sich vielleicht zu sicher waren. Die waren damals jung, modern, cool, die konnten ohne Pass durch ganz Europa reisen, es gab vielleicht noch kein Internet, aber ansonsten waren sie alle miteinander befreundet, es gab Liebesaffären, „es wird nie wieder Krieg geben“, das war auch 1914 klar. Aber es gibt keine Sicherheit.
Yury Winterberg: Im ersten Teil erscheint Peter Kollwitz. Als der Krieg ausbricht, ist Peter Kollwitz in Norwegen im Urlaub. Er hört, dass es Krieg gibt, und will sich unbedingt freiwillig melden, obwohl er eigentlich viel zu jung ist. Deshalb versucht er ganz schnell zurückzukommen. Auf seiner Rückfahrt trifft er im Zug mit jungen Briten, mit jungen Franzosen, mit ganz vielen verschiedenen jungen Europäern zusammen, die alle ein Ziel haben: sich freiwillig zu melden. Sie wussten ganz genau, als sie da im Zug miteinander geredet haben, in drei oder vier Wochen werden wir möglicherweise aufeinander schießen, aber jetzt machen wir erst noch Party zusammen.
Was hat euch dieses Projekt persönlich gebracht?
Jan Peter: Also wenn du vier Jahre deines Lebens in etwas reinsteckst, verändert dich das immer. Klar weiß ich jetzt mehr über den Ersten Weltkrieg als vorher, aber das ist nicht das Wichtige. Das Wichtige ist die Intensität, mit der ich mich mit diesen 14 Leuten beschäftigt habe, die zu Freunden geworden sind. Wir haben in Frankreich mit einem französischen Team gedreht, in Kanada mit einem kanadischen ... Man sieht sein eigenes Land anders, wenn man alleine unter Fremden ist. Und das sind Dinge, die mich emotional größer und reicher und reifer gemacht haben.
Eine letzte Frage: Gibt es etwas, wofür Sie sich freiwillig selbst in Gefahr bringen und vielleicht sogar sterben würden?
Yury Winterberg: Na ja, ich habe zwei Kinder und bevor sie da waren, hätte ich sicherlich gesagt, nein, da gibt es nichts, wofür es sich lohnt. Aber jetzt habe ich zumindest das Gefühl, die Kinder beschützen zu müssen. Für sie würde ich das wahrscheinlich tun.
Jan Peter: Wichtig ist zu wissen, schütze ich wirklich das, was ich liebe, oder werde ich manipuliert von jemandem, der mir das einredet? Wenn ich für mich entscheiden kann oder muss, dann gibt es natürlich immer Dinge, für die es sich lohnt zu sterben, aber nicht der Krieg der Politiker, das lohnt sich nicht.
Vielen Dank!
Interview: Alina und Ulysse (Schülerredaktion Grand méchant loup)
Bild 1 und 3 - ARTE
Zeichnung: Alice und Sophie - Redaktion Grand méchant loup
Karte von Verdun - Privatbesitz Redaktion Grand méchant loup
@ Grand méchant loup | Böser Wolf