Politisch werden
Schülerreporter Böser Wolf: Haben Sie sich schon früher für die Politik interessiert?
Thomas Krüger: In meiner Schulzeit eher nicht. Ich bin in der DDR groß geworden. Durch mein Elternhaus und meine Freunde hatte ich ein distanziertes, kritisches Verhältnis zur Politik in der DDR.
Wann haben Sie bemerkt, dass es wichtig ist als Kind politische Kenntnisse zu haben?
Als ich in die Lehre ging. Nach der Schule bin ich nach Fürstenwalde gegangen und habe einen Beruf gelernt. Das hieß in der DDR Berufsbildung mit Abitur in drei Jahren, also Berufsabschluss und Abitur in einem. Es war eine ziemlich gute Idee, beides zu kombinieren. In der Zeit habe ich angefangen, mich politisch zu engagieren, weil in einem Dorf bei Fürstenwalde ein Regimekritiker gewohnt hat. Er hieß Robert Havemann. Eine Mitschülerin war die Nachbarin von ihm und hat mich zu ihm mitgenommen. Die Staatssicherheit hatte die Straße abgesperrt. Dadurch, dass sie dort wohnte, konnten wir durch die Sperre laufen und über die Gartentür zu ihm gehen. Als Havemann verhaftet und vor Gericht gestellt worden ist, bin ich ins Kreisgericht gegangen, weil es öffentliche Gerichtsverhandlungen waren. Es war meine erste Verhaftung. Ich bin damals auf die Wache mitgenommen und befragt worden, warum ich hier wäre und diese Veranstaltung besuchen wollte. Und ich habe mich getraut zu sagen: weil es mein Recht ist.
Das war mutig!
Ich fand den Havemann nett, er war ein intellektueller, interessanter Typ. Deshalb galt es, solidarisch zu sein und den Leuten zu zeigen, dass sie nicht willkürlich Entscheidungen treffen können. Meine ersten Erfahrungen vom politisch sein waren also, dass dieses Regime in der DDR den Leuten Grenzen gesetzt hat und dass man Farbe bekennen sollte.
Waren Sie damals in der FDJ?Ich habe es versucht. Ich war kurz in der FDJ, bin dann aber gleich ausgeschlossen worden, weil ich nicht konform genug war.
Wie sind Sie danach dazu gekommen, Theologie zu studieren?
Ich wollte ursprünglich Theaterwissenschaft studieren, bin aber aus kaderpolitischen Gründen abgelehnt worden. Sie wussten Sachen aus meinem politischen Engagement, und ich galt nicht als vertrauenswürdig. Deshalb habe ich mich entschlossen, Theologie zu studieren. Es gab rein kirchliche Hochschulen, die ein relativ freies Studium angeboten haben, dort bin ich auch genommen worden.
Gibt es besondere Erfahrungen, die Sie geprägt haben in Ihrem Leben in der DDR?
Geprägt hat mich vieles. Vor allem das, was ich mir selber erschlossen habe.
Reisen
Was zum Beispiel?
Die Reisemöglichkeiten Richtung Westen waren in der DDR versperrt. Ich habe mir also einen Sport daraus gemacht, soweit wie möglich Richtung Osten zu kommen. Das war nicht so einfach, weil auch dort alles geregelt war. Am Anfang bin ich nach Polen getrampt, auch nach Bulgarien, Rumänien, Ungarn... Dann wollte ich weiter in den Osten. Also habe ich mir ein Visum für die Sowjetunion besorgt. Da kam man eigentlich nur mit Gruppen hin. Das kam für mich aber nicht in Frage. Ich wollte die Leute kennen lernen, die dort leben. Ich hatte mir den Kaukasus als Region ausgesucht und bin illegal vom Kurs abgewichen, da man eigentlich nur drei Tage durch die Sowjetunion reisen durfte. Ich habe den Zugschaffner in Kiew bestochen und bin zur falschen Seite, über die Gleise in den Park, ausgestiegen. Übrigens war ich nicht der Einzige. Ich bin dann in den Kaukasus weitergefahren, habe Berge bestiegen, bin nach Armenien an die türkische Grenze gefahren und ans Kaspische Meer. Sechs Wochen war ich unterwegs.
Und ist Ihnen nichts passiert?
Als ich zurück wollte, musste ich einen Tag lang im Gefängnis verbringen, weil ich keine ordentlichen Papiere mehr hatte. Es war ein Sport. Die Menschen, die mich festnahmen, haben mich mit zu sich nach Hause genommen und ich habe erzählt, was ich gemacht habe. Es wurde die ganze Nacht gefeiert, weil sie in der Sowjetunion formell in der Polizei waren, also sehr streng und rigide, aber im Alltag waren sie total relaxed und gastfreundlich. Ich konnte durch die Schule ein bisschen Russisch und habe mich dort sehr wohl gefühlt. Ich wurde bestraft zu einer Zahlung von 10 Rubel, und habe dann einen Stempel bekommen, dass ich nie wieder in die Sowjetunion einreisen darf. Aber der Personalausweis war so ein kleines Ding, nicht wie heute. Also habe ich ihn aus Versehen verloren. Sie hatten keine Computer damals, wodurch sie alles bemerkt hätten. Also habe ich einen neuen Ausweis beantragt und eine neue Reise mit Freunden gemacht. Alles in den 1980er Jahren.
Was waren es für Reisen?
Es hat einen lustigen Namen: Unerkannt durch Freundesland. Es war ein bisschen Kult, sich so etwas zu trauen. Es gab die irrsinnigsten Geschichten, bei mir war es die harmlose Variante. Übrigens ist Angela Merkel auch illegal durch die SU gereist.
Machte man alles mit dem Zug?
Es gab einen Comic, der hieß Fix und Foxi. Dort gab es eine Bastelanleitung für einen Eissegler. Also wie Surfen, aber eben auf Eis mit Kufen. Den haben Leute aus Dresden nachgebaut, in einzelne Teile zerlegt und sind illegal in die Sowjetunion eingereist, im Winter zum Baikalsee. Sie haben eine Baikalsee-Überquerung gemacht, an der schmalsten Stellen sind es 70 Kilometer, und sind mit dem Eissegler rüber gedonnert.
War es erfolgreich?
Ja. Das zeigt, dass damals Leute versucht haben, aus der schwierigen Situation in der DDR, aus der Enge und der Klammerung zu entkommen, und das Beste für sich daraus zu machen. Das hat mich sehr geprägt, weil ich noch heute die Fähigkeit zur Improvisation habe, die ich in dieser Zeit haben musste. Nicht auf Befehle zu hören, sondern sich selbst auszuprobieren. Spielerisch kreativ zu sein, das ist eines der Beispiele von den Sachen, die mich in der DDR geprägt haben.
Musik
Gibt es doch vielleicht etwas, dass Sie vermissen?
Zurücksehnen tue ich ehrlich gesagt nicht so sonderlich. Ich finde schon gut, wenn man frei reisen kann, frei entscheiden kann, welche Musik man hört.
Welche Musik hätten Sie gern gehört?
Ich habe gern Jazzmusik gehört, das konnte man in der DDR ein bisschen hören, aber die tollen Superstars wie Miles Davis haben wir alle in Warschau gesehen. Jedes Jahr sind wir nach Warschau gepilgert, weil dort ein großes Jazzfestival veranstaltet wurde, gesponsert von amerikanischen Geldern. In Polen war vieles möglich, dort haben alle möglichen Stars gespielt. Gestern war ich zum Beispiel in einem Konzert, bei dem ein Schlagzeuger, Ginger Baker von Cream, einer uralten Rockband, gespielt hat. Den wollte ich gern in den 70er und 80er Jahren live sehen. Aber zu DDR-Zeiten ging es eben nicht richtig.
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Thomas Krüger ist dabei, diese Widmung uns zu schreiben
Interview: Clara, Emmanuelle, Gaia und Leopold (Schülerredaktion Böser Wolf)
Zeichnungen: Alina, Greta und Gaia (Schülerredaktion Böser Wolf )
Foto: Grand méchant loup
© Grand méchant loup | Böser Wolf | Mai 2015
Nicht auf Befehle hören, sondern sich selbst ausprobieren
Thomas Krüger, Präsident des Deutschen Kinderhilfswerks und der Bundeszentrale für politische Bildung /bpb, erzählt den jungen Reportern des Bösen Wolfs über seine Jugend in der DDR.