Vers la page française
Po polsku
deutsche Seite

3. Im Westen

 Norbert erzählt uns seine Geschichte und wir hören alle gespannt zu

 Berliner Mauer: die dramatische und spannende Flucht eines JugendlichenErstmal Hamburg
Ich habe erstmal einen Kulturschock erlebt. Der Fahrer war ein Jugoslawe, noch relativ jung. Er ist dann nachts um eins mit mir auf die Reeperbahn gegangen. Die Häuser sahen viel gepflegter und bunt aus, dann die ganzen Leuchtreklamen und auch, was es in der DDR offiziell nicht gab, Prostitution. Und dann kam ich an eine Stelle, wo die Nutten auf der Straßen standen und permanent Typen anmachten, und ich da mit meinen 15 Jahren mittendrin. Das war schon eine sonderliche Sache.

Dann West-Berlin

Ich bin am nächsten Morgen von Hamburg nach Berlin geflogen, durch die DDR konnte ich erst nicht.
Ja, und dann war ich auf der Sophie-Scholl-Schule. Weil dort Russisch gelernt wurde. Und das gab es nicht oft in West-Berlin. Die ganzen Flüchtlinge und Übersiedler aus Polen, Russland und der DDR mussten irgendwo hin. Da wir kein Latein, Englisch oder Französisch hatten, war das dann begrenzt.
Und erst hinterher habe ich bemerkt, wie alles mich doch angestrengt hatte. Ich habe danach ein halbes Jahr lang Haarausfall gehabt. Also die Stellen, die mir vorne fehlen, die sind mit 15 entstanden. Ich saß in der Schule und fasste mich an den Kopf und da rieselten Hunderte von Haaren herunter. Erst hinterher merkte man, wie der Stress einen körperlich doch mitgenommen hatte.
Es war für mich später immer ein mulmiges Gefühl, mit der U-Bahn unter Ost-Berlin zu fahren und du weißt, der und der wohnt da und du kannst nicht hin. Auf dem Bahnhof liefen noch Soldaten herum, der Zug fuhr dann langsamer. Da kriegte man schon Herzklopfen. Es waren stillgelegte Bahnhöfe. Als ich in Ost-Berlin wohnte, war es mir, aber auch vielen anderen, unbekannt, dass die U-Bahn unten fuhr.
Bei der Flucht wusste ich, ich würde meine Freunde erstmal verlieren. Aber komischerweise habe ich sie nach dem Mauerfall wieder gefunden, auch wenn wir uns über 20 Jahre nicht gesehen hatten. Es sind immer noch meine Freunde. Es ist vielleicht das, was mich hier enttäuscht hat. Ich hatte das Gefühl, dass die Leute in West-Berlin oberflächlicher waren. Auch in ihren Beziehungen. Ich hatte hier immer viele Kumpels, aber keine Freunde.

 Berliner Mauer: die dramatische und spannende Flucht eines Jugendlichen

 Berliner Mauer: die dramatische und spannende Flucht eines Jugendlichen

 Berliner Mauer: Flucht eines Jugendlichen

4. Mein Vater
Ich habe ihn natürlich angerufen, damit er sich keine Sorge macht. Und wie ich erst viel später erfahren habe, hatte er schon gewusst, dass es passieren soll. Meine Mutter hatte, lange bevor sie selber ging, mit ihm darüber gesprochen. Sie wollte sicherstellen, dass er sich in der Zeit um mich kümmern würde.
Es hat lange gedauert, bis ich wieder nach Ost-Berlin fahren durfte. Sie haben mich nicht hereingelassen.
Zehn Jahre lang durfte ich meine Verwandten nicht besuchen. Mein Vater habe ich nach 6 Jahren wiedergesehen, wir haben uns in Ungarn getroffen. Wir haben eine Woche da zusammen verbracht.

 Berliner Mauer: Flucht eines Jugendlichen

 Berliner Mauer: Flucht eines JugendlichenAls Norbert vierzehn Jahre alt war, floh seine Mutter nach West-Berlin. Dann begann für ihn eine abenteuerliche Zeit. Klick auf die Schrift!

 

 Berliner Mauer: Flucht eines Jugendlichen

Übergang Check Point Charlie

 Berliner Mauer: Flucht eines Jugendlichen

2. Verschiedene Fluchtversuche

Warum ich floh...
Es war nicht alles schrecklich in der DDR. Wenn man da lebt, arrangiert man sich. Ich habe mich nicht unwohl gefühlt, man kennt es nicht anders. Ich wäre allein nicht auf die Idee gekommen zu sagen, ich muss hier heraus. Der Antrieb war meine Mutter, die wegwollte. Sie fragte mich, ob ich nachkommen würde. Ich habe ihr natürlich zugestimmt, sonst wäre sie auch da geblieben.


Der Stress um die Organisation
Insgesamt waren es acht Versuche. Das waren fast immer Termine, die kurzfristig abgesagt wurden. Es war schon stressig, weil man natürlich mit keinem darüber reden durfte. Es hieß, du musst um diese oder jene Uhrzeit da sein und mein Vater sagte, aber heute Abend bist du pünktlich zu Hause. Dann kam ich zu spät zurück und es gab Ärger, weil ich ihm auch nicht die Wahrheit sagen konnte. Er sollte das nicht wissen. Alles geheim zu halten, war schwierig. Es bewegt einen doch.
Ich sollte ursprünglich auch mit einem Diplomantenauto flüchten, aber da ich noch jung war, wollte mich niemand mitnehmen. Also ging das über eine Fluchtorganisation. Es gab Leute in West-, aber auch in Ost-Berlin, die solche Fluchten organisiert haben. Sie haben alte Autos gekauft, Fahrer engagiert, Kuriere besorgt und geschickt. Das hat auch Geld gekostet. Damals hat meine Mutter 20.000 DM bezahlt, damit meine Flucht stattfinden konnte. (Das würde heutzutage 20.000 € entsprechen).

Norbert zeigt uns die Transitstrecke, wo er flüchtete.
 Berliner Mauer: Flucht eines JugendlichenKontakte hatten wir über Kuriere. Da wurde jemand geschickt, man hat sich getroffen und er oder sie hat alles erzählt. Am Telefon wurde nichts besprochen. Und brieflich natürlich auch nicht. Die Post wurde zum Teil geöffnet, vielleicht nicht bei allen, aber bei bestimmten Menschen ja. Das konnte man eindeutig erkennen. Also hat es etwa über ein Jahr gedauert, bis ich auch dran war und bis es auch geklappt hat. Es war am 8. April 1978.

 

Ein verfehlter Versuch
Es gab also mehrere Versuche, ich sollte einmal zusammen mit einem älteren Mann, er war vielleicht 35, in einem Auto flüchten. Er hatte den Schlüssel für das Auto, das vor dem Friedrichstadtpalast oder in einer der kleineren Straßen in Berlin-Mitte stehen sollte. Wir suchten dieses Auto, aber an einer Straßenecke stand ein Polizeiauto. Und der Typ, der mitflüchten wollte, kriegte Panik und sagte: „Sie wissen was - wir gehen weg!“. Wir haben noch ein bisschen gewartet. Dann kam einer von den Polizisten auf uns zu. Und der Typ sagte bloß: „Renn weg!“ und ich sagte: „Nein, ruhig bleiben.“. Ich bin zum Polizist gegangen und habe ihn freundlich gegrüßt und habe einfach gelogen. Ich habe gesagt: „Wir warten auf einen Freund und wir wissen nicht, wie lange die Vorstellung im Friedrichstadtpalast geht.“ Er guckte auf die Uhr und sagte, so genau wisse er das auch nicht. Das Auto kam dann auch nicht. Der junge Mann hatte später behauptet, ich würde für die Stasi arbeiten. Deshalb wollte er nicht mehr mit mir flüchten. Ich blieb also cool und wahrscheinlich deshalb hat es am Ende geklappt.

 Berliner Mauer: Flucht eines Jugendlichen Berliner Mauer: Flucht eines Jugendlichen


Die Fahrerlaubnis für das Moped, das sich Norbert mit dem Geld der Jugendweihe gekauft hatte. Er musste leider bei der Flucht sein Moped zurücklassen.

 

Der letzte Fluchtversuch Berliner Mauer: Flucht eines Jugendlichen
Vorbereitungen
Bei dem letzten Fluchtversuch war ich am Alexanderplatz verabredet. Wir (mein Fluchthelfer und ich) haben da Bier getrunken und geschwatzt. Was ich nicht wusste, er wollte mich erst einmal kennenlernen. Dann hat er gefragt, welche Möglichkeiten ich hätte, an die Transitstrecke zu kommen. Ich habe gesagt: „Mit dem Moped kann ich es schon probieren.“ Wir haben uns an einem bestimmten Ort um eine bestimmte Uhrzeit verabredet. An dem Tag stand vor meinem Haus ein Auto mit Leuten von der Stasi. Die erkannte man immer ganz gut: Ein PKW mit vier Leuten und mit Fresskorb in der Mitte und sie guckten irgendwo. Die waren nicht zu übersehen. Also standen sie vor dem Haus und ich wusste nicht, ob sie etwas wussten. Also habe ich mich erstmal auf mein Moped gesetzt, bin durch sämtliche Schleichwege und über Kinderspielplätze gefahren, damit sie mich erstmal nicht verfolgen konnten. Ich musste um halb West-Berlin herumfahren, also nach Norden hin, dann auf die Autobahn und dann musste ich an die Transitstrecke herankommen. Ich hatte mich natürlich verfahren, weil ich unter Zeitdruck stand. Es gab damals keine Mittelleitplanke und da ich spät bemerkt habe, dass ich in die falsche Richtung fuhr, bin ich einfach umgedreht und bin dann von Polizisten angehalten worden und musste 10 Mark Strafe bezahlen. Dann habe ich sie nach dem Weg gefragt, habe ihnen auch herrlich erklärt, es wäre auch der Grund, warum ich umgekehrt wäre. Dann war ich in einem Dorf, das nennt sich Bredow, kurz vor Nauen. Dort habe ich mein Moped abgestellt. Da guckte eine ältere Dame aus dem Fenster. Ich habe gesagt, dass irgendetwas am Motor kaputt sei und sie solle schön aufpassen. Ich würde am nächsten Tag wiederkommen.
Es lagen noch zwei Kilometer bis zur Transitstrecke. Ich bin mit meinem Helm unter dem Arm und einem Rucksack losgestiefelt. Drei Leute unterwegs wollten mich schon mitnehmen, aber ich habe gesagt: „Brauchen Sie nicht, ich bin verabredet und werde abgeholt.“ Dann stand ich an der Bushaltestelle und da ich das Auto schon kannte, habe ich den Daumen herausgehalten, so als ob ich per Anhalter fahren wollte. Er hielt und ich bin dann vorne eingestiegen. Dann irgendwann abends im Dunkeln bin ich in den Kofferraum gekrabbelt. Es war sehr eng, ich konnte die Arme gar nicht bewegen und irgendwann sind wir an die Grenze gekommen. Berliner Mauer: Flucht eines Jugendlichen

An der Grenze
Der Mann hat mir das danach erzählt, gesehen habe ich nichts in dem Moment. Er wurde schon verdächtigt, weil er an dem Tag von Hamburg nach West-Berlin kam, dann nach Ost-Berlin, nach West-Berlin und zurück nach Hamburg fuhr. Sie haben ihn also auf eine Extraspur geleitet, wo die Schranken zugemacht wurden. Dann habe ich aber das Gespräch gehört zwischen dem Fahrer und dem Grenzpolizisten. Er fragte: Was haben Sie im Kofferraum? Und der hat gut reagiert, sofort die Schlüssel abgezogen, bereit den Kofferraum aufzumachen und er sagte: „Ist kein Problem, wollen Sie sehen?“. Und der Polizist sagte: „Ist schon gut.“ Er hat dann nur      die Papiere kontrolliert und der Fahrer durfte weiter. Eigentlich durfte man auf der Transitstrecke nicht kontrollieren, es gab ein Transitabkommen, weil es keine Einreise war.
Insgesamt war ich zwei Stunden im Kofferraum, es war unbequem und sehr laut. Du kriegst schon Herzklopfen, aber Angst in dem Sinne hatte ich nicht. Ein bisschen vielleicht an der Grenze. Nach zehn Minuten hinter der Grenze hat er mich herausgelassen. Er hat sich gefreut, ich habe mich gefreut. Das war für ihn auch das erste Mal, dass er das gemacht hat.

5. 1989
Und dann war auf einmal alles vorbei, 89.

 Berliner Mauer: Flucht eines Jugendlichen

 Berliner Mauer: Flucht eines Jugendlichen

 1. Die Flucht der Mutter

Wie alles anfing...
Es gab Leute, die nicht mehr in der DDR leben wollten, dazu gehörte meine Mutter. Sie hat damals in einer sehr kleinen Botschaft gearbeitet. Das war die peruanische Botschaft. Es gab nur den Botschafter und den ersten Sekretär und meine Mutter. Dadurch entstand ein intensives Verhältnis, das über die Arbeit hinaus ging. Wir sind zum Beispiel oft am Wochenende zusammen herausgefahren. Dieser Botschafter wurde irgendwann in ein anderes Land versetzt. Kurz bevor er die DDR verlassen musste, hat er meine Mutter mit ihrem Einverständnis in den Kofferraum gepackt

und ist mit ihr über den Check Point Charlie nach West-Berlin gefahren. So war

meine Mutter aus dem Land. Da war ich gerade vierzehn.

 Berliner Mauer: Flucht eines Jugendlichen

 

 

Die Jugendweihe
Meine Mutter ging am 3. März 1977, zwei, drei Tage vor der Jugendweihe. Es war ganz furchtbar. Da war die Feier von der gesamten Schulklasse. Dafür wurde ein Riesensaal gemietet. Jede Familie hatte einen Tisch und an meinem Tisch saßen alle Verwandte stumm und guckten vor sich hin, und die Mutter war weg. Das war schon komisch. Sie hat selber nicht gewusst, wann die Flucht stattfinden würde. Sie hatte selbst die Feier organisiert. Deshalb war das eine große Überraschung für alle.

                                                                                                                                                    Der Stuhl meiner Mutter blieb leer

Das Verhör
Da habe ich die Stasi kennen gelernt. Sie haben mich aus der Schule abgeholt. Die Tür ging auf, mitten im Unterricht, die Sekretärin sagte: „Hier sind zwei Herren, die dich sehen wollen!“. Ich musste also mit zum Polizeipräsidium und da haben sie mich ausgefragt. Es war in einem Verhörraum, relativ klein, ein hohes Fenster, ein Schreibtisch, zwei Stühle, eine Schreibmaschine. Ich setzte mich hin und er fragte mich, was ich über die Flucht meiner Mutter wusste. Ich wusste schon, was ich sagen darf und was nicht. Wir hatten es vorher abgesprochen. Ich habe ein bisschen so erzählt. Er (der Mann von der Stasi) war die ganze Zeit ganz ruhig und leise. Und irgendwann sprang er abrupt auf und brüllte: „Sie können mir doch nicht erzählen, dass Sie nicht mitgekriegt haben, dass Ihre Mutter irgendwelche Vorbereitungen für Ihre Flucht getroffen hat!“. Ich war erst natürlich erschrocken. Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Und ich sagte noch, sie habe wahrscheinlich in Ihrem Schlafzimmer Sachen vorbereitet, aber in ihrem Schlafzimmer hätte ich nichts zu suchen. Danach wurde unsere Wohnung beschlagnahmt. Das heißt, alles was meiner Mutter gehörte, gehörte dann dem Staat. Ich durfte auch nichts aus der Wohnung mitnehmen. Von nun an wohnte ich bei meinem Vater.