In Polen und Frankreich lernt man, gelassen zu sein -
es funktioniert am Ende immer
Ein Interview der Schülerreporter des Bösen Wolfes mit Stephan Steinlein
Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
Sie sind Diplomat, was finden Sie an diesem Beruf wichtig?
Wichtig finde ich, dass man mit anderen Leuten reden kann, dass man sie verstehen kann, dass man die Fähigkeit hat, fremde Kulturen zu verstehen. Man muss auch ein bisschen Sprachen können und vor allem muss man neugierig sein.
Die Bösen Wölfe mit Stephan Steinlein
Was ist Ihre Aufgabe als Staatssekretär?
Als Staatssekretär muss man dafür sorgen, dass der Minister sich nicht allzu viel um das Haus hier kümmern muss, sondern dass man ihm die Arbeit nach Möglichkeit abnimmt. Der Bundesaußenminister ist sehr viel unterwegs. Wir sind zwei Staatssekretäre und wir sorgen dafür, dass alles ordentlich läuft und dass es nicht drunter und drüber geht.
Was mögen Sie an Ihrem Beruf?
Dass man so viele Menschen trifft, dass man mit so vielen Themen zu tun hat, dass er unheimlich vielfältig ist und dass er eigentlich jeden Tag interessant ist.
Gibt es Sachen, die Sie nicht so gerne mögen?
Ja, wenn man bei langweiligen Konferenzen sitzt.
Was fällt Ihnen als erstes ein, wenn Sie an Polen denken?
Wenn ich an Polen denke, dann denke ich daran, dass ich drei Jahre dort verbracht habe und, dass es ein sehr wichtiges Land für mich ist.
Assoziieren Sie etwas Bestimmtes dazu?
Freiheit. Polen ist ein Land der Freiheit. Für jemanden wie mich, der aus der früheren DDR kommt, ist es ein sehr wichtiges Land, weil es in Polen die erste Bürgerbewegung gab, die sich gegen die damalige Diktatur aufgelehnt hat und am Ende erfolgreich war. Damit war sie für viele von uns sehr beispielgebend.
Was fällt Ihnen als erstes ein, wenn Sie an Frankreich denken?
Was verbindet Sie mit Frankreich?
Meine Frau, meine Kinder. Meine Kinder sind beides: Deutsche und Franzosen.
Und was fällt Ihnen als erstes ein, wenn Sie an Deutschland denken?
Ein großes Land mit einer komplizierten Geschichte. Wir reden ganz viel über die wachsende deutsche Verantwortung und wir müssen lernen, damit umzugehen. Es ist ein Land mit einer teils großartigen, teils schrecklichen Geschichte. Die meisten kennen nur einige Facetten davon.
Wie hat sich diese Freundschaft zwischen diesen drei Ländern entwickelt?
Wenn man es genau betrachtet, geht das Weimarer Dreieck schon über Deutschland, weil wir mit Frankreich so eng verbunden sind – durch diese erste Wundergeschichte, die deutsch-französische Versöhnung – und mit Polen durch den zweiten Teil der Wundergeschichte.
Und wie ist es zwischen Frankreich und Polen?
Die Beziehung zwischen Polen und Frankreich ist sehr viel komplexer. Polen und Frankreich waren im 19. Jahrhundert ganz eng verbunden: die Polen lieben Napoleon und das, was Frankreich im 19. Jahrhundert bedeutet hat, aber im 20. Jahrhundert hatten sie nicht mehr so viel unmittelbar miteinander zu tun, weil immer Deutschland dazwischen lag. Und deswegen sind die Beziehungen nicht ganz so eng wie zwischen Deutschland und Frankreich auf der einen Seite und zwischen Deutschland und Polen auf der anderen Seite.
Was können Polen und Franzosen von den Deutschen lernen?
Das ist eine ganz schwierige Frage, andersrum wäre mir lieber. Ich glaube, von Deutschland kann man lernen, mit den Brüchen in der eigenen Geschichte fruchtbar umzugehen. Eigentlich haben wir zwei verschiedene Geschichten: eine von Ost-Deutschland und eine von West-Deutschland. Dazu das, was an Schrecklichem vorher geschehen ist. Wir sind in der Lage, sehr unterschiedliche Schichten von Geschichte miteinander zu verbinden. Die polnische Geschichte und die französische Geschichte, jedenfalls auf den ersten Blick, sind viel einfacher strukturiert. Dieser vielschichtige Zugang zur Wirklichkeit, den haben wir in mancher Hinsicht den Polen und den Franzosen voraus.
Was können Deutsche von den Polen und Franzosen lernen?
Von den Franzosen kann man Lebensart und eine gewisse Leichtigkeit lernen, Improvisationsvermögen. Dasselbe kann man von den Polen lernen. Man denkt immer, die Polen seien nicht so gut beim Organisieren. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass am Ende in Polen alles immer ganz wunderbar funktioniert. Ein bisschen ist es in Frankreich auch so. Wir Deutschen glauben immer, wir müssen alles immer von Anfang an durchplanen und sind immer furchtbar nervös, wenn nicht alles so funktioniert. In Polen lernt man, gelassen zu sein.
Im Sommer 2014 jährt sich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum einhundertsten Mal. Was verbinden Sie persönlich mit dem Ersten Weltkrieg – sprach man in Ihrer Familie darüber?
Meine Familiengeschichte ist mit dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg eng verbunden. Mein Großvater hat im Ersten Weltkrieg gekämpft, und mein Vater hat im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Mein Großvater, – ich habe noch Bilder davon - war Offizier der kaiserlich deutschen Armee an der damaligen Ostfront, und er war Offizier der kaiserlich deutschen Armee an der Westfront. Und es gibt da so ein Bild, was ich noch habe, wo er im Unterstand sitzt. Mein Vater ist dann im Zweiten Weltkrieg am ersten Tag des Krieges mit der deutschen Wehrmacht in Polen einmarschiert, und war dann als Soldat in Frankreich. Und insofern verbinden sich mit den beiden Generationen vor mir sowohl Frankreich als auch Polen beide Male im Krieg. Und ich kann jetzt beide Sprachen jedenfalls einigermaßen sprechen, und liebe beide Länder. Das ist doch ein großer Fortschritt!
Hat es Sie denn viel beschäftigt, als Sie noch jung waren?
Der Erste Weltkrieg weniger, aber der Zweite Weltkrieg schon sehr, wobei in meiner Familie immer viel darüber erzählt wurde. Meine Eltern waren relativ alt, und dadurch war auch der Erste Weltkrieg irgendwie noch da. Man erzählte sich noch ein paar Geschichten aus dem Ersten Weltkrieg. Aber natürlich viel mehr Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg. Als ich geboren wurde, 1961, da war der Krieg noch gar nicht so lange her. Der kam mir immer damals schon wie eine Ewigkeit vor, und trotzdem war er noch sehr lebendig. Und ich weiß, wir haben wirklich noch Angst gehabt vor dem Krieg. Als Kind hatte ich noch Angst davor, dass irgendwann die Bomben fallen, weil die Erwachsenen um mich herum das alles noch frisch in Erinnerung hatten.
Fällt Ihnen spontan eine der Geschichten ein, von denen Sie gesprochen haben?
Eine Geschichte von meinem Vater, der im Hafen von Brest war. Als die Festung in Brest angegriffen wurde, gab es einen amerikanischen Luftangriff. Er bekam einen Splitter ab, und er hatte zufällig ein Buch in der Tasche, und in diesem Buch ist der Splitter stecken geblieben, und das hat ihm das Leben gerettet. Ansonsten wäre er in Brest gefallen, und mich hätte es nicht gegeben.
Welche Rolle spielt der Erste Weltkrieg in Bezug auf die Entwicklung der Europäischen Union?
Wir reden im Augenblick sehr viel über den Ersten Weltkrieg, ob man ihn vielleicht hätte verhindern können, wenn es mehr Diplomatie gegeben hätte, wenn man mehr miteinander geredet hätte, so wie wir es heute tun. Ich glaube, das ist auch vernünftig, denn man sieht, dass gute Diplomatie solche Kriege verhindern kann. Die Geschichte zwischen dem Ersten Weltkrieg und der EU hat natürlich noch einige Zwischenetappen. Schon nach dem Ersten Weltkrieg hat es Menschen gegeben, die ein vereintes Europa wollten. Aber die galten damals als Spinner. Und es musste erst den Zweiten Weltkrieg geben, bis man gesehen hat, dass sie keine Spinner waren!
In Frankreich hat der 100. Jahrestag des Beginns vom Ersten Weltkrieg eine große Bedeutung, in Deutschland scheint es nicht so zu sein, warum?
Ich würde dem widersprechen. Vor kurzem galt noch der Satz: „Für die Deutschen ist der Erste Weltkrieg nicht so wichtig wie der Zweite Weltkrieg“ – und nicht umsonst heißt der 1. Weltkrieg in Frankreich „La Grande Guerre“. Trotzdem glaube ich, ist es gerade dabei, sich zu ändern. Auch für die Deutschen ist der Erste Weltkrieg jetzt plötzlich wieder wichtiger geworden, und auch näher gerückt.
Der Erste Weltkrieg hat eine immense Wirkung gehabt für die Wirklichkeit, in der wir heute leben. Wenn man sich anschaut, was heute im Nahen Osten passiert, in Syrien und im Irak, das sind Länder, die nach dem Ersten Weltkrieg entstanden sind. Und eigentlich haben der Krieg in Syrien und der Krieg im Irak, die wir im Augenblick erleben, auch etwas mit dem Ersten Weltkrieg zu tun, denn die Grenzen, die dort jetzt in Frage gestellt werden, sind alle nach dem 1. Weltkrieg gezogen worden.
Was bedeutet der 11. November für Deutschland?
Der 11. November ist eigentlich im kollektiven Bewusstsein der Deutschen nicht sehr präsent. Es ist sicher nicht ein Tag, der so wichtig ist wie in Frankreich. Beim 8. Mai ist es anders. Der Tag, an dem der Zweite Weltkrieg endete, ist für Deutsche noch stärker präsent.
Im letzten Monat waren die Europawahlen, wie sehen Sie Deutschlands Zukunft innerhalb der EU? Welche nächsten Schritte wünschen Sie sich?
Ich würde mir wünschen, dass wir trotz der Wahlergebnisse, die es in vielen europäischen Staaten gegeben hat, den Weg hin zu einem Vereinten Europa weitergehen. Ganz sicher ist das nicht. Wir haben gesehen, wieviel Widerstände es gibt, und ich glaube, es braucht sehr, sehr viel Überzeugungsarbeit in den nächsten Jahren, um Menschen auf diesen Weg mitzunehmen.
Was denken Sie als deutscher Diplomat vom Konflikt in der Ukraine? Machen Sie sich Sorgen?
Natürlich machen wir uns da große Sorgen, weil es ein Konflikt ist, der sehr nah ist, in unserer Nachbarschaft, und weil wir nicht gedacht haben, dass es einen solchen blutigen Konflikt nochmal in Europa geben würde. Das hat sehr weitreichende Auswirkungen auf unser Verhältnis zu Russland - Russland ist nun mal ein wichtiger Nachbar der EU. Wir haben nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Regeln aufgestellt, wie wir in Europa miteinander leben wollen.Dazu gehört eben auch, dass man Grenzen respektiert. Und diese Grenzen sind jetzt im Fall der Krim nicht respektiert worden. Die Krim ist annektiert worden, und das stellt über die Annexion der Krim hinaus natürlich die Frage: Gilt die Ordnung, in der wir bisher gelebt haben, noch weiter? Oder kann sich jeder jetzt nehmen, was er will?
Was könnte man Ihrer Meinung nach machen, um einen Krieg in der Ukraine bzw. eine Ausweitung des Konflikts zu verhindern?
Wir versuchen, die Konfliktparteien miteinander ins Gespräch zu bringen. Wir reden sehr viel mit der ukrainischen Führung, und wir reden auch sehr viel mit Russland, mit dem Ziel, beide Seiten an einen Tisch und ins Gespräch zu bringen darüber, wie man mit den Problemen, die es gibt, umgeht, und wie man sie friedlich lösen kann.
Wenn Sie in den Krieg ziehen müssten, was würden Sie mitnehmen: Ein Handy, ein Laptop, ein Tablet oder ein Notizheft mit einem Stift? Was würden Sie damit machen?
Erstens habe ich den Wehrdienst mal komplett verweigert. Insofern bin ich nicht in die Verlegenheit gekommen, in den Krieg zu ziehen und werde es auch nicht mehr. Wenn ich aber in diese Verlegenheit käme, dann würde ich sicher einen Stift mitnehmen, weil ich nicht weiß, ob es Strom gibt.
Würden Sie an Ihre Familie schreiben, würden Sie auf Facebook posten, ein Tagebuch halten?
Ich glaube nicht, dass ich auf Facebook posten würde. Ich glaube nicht, dass so etwas im Krieg zu tun klug ist. Manche schreiben Tagebuch, und manche schreiben danach aus der Erinnerung heraus etwas auf. Aber noch einmal: Ich hoffe, dass ich nie in diese Situation kommen werde, und ihr auch nicht!
Interview: Chloé, Emmanuelle, Emil und Leopold (Kinderredaktion Böser Wolf)
Zeichnungen: Alina, Coralie, Dagmara, Gaia, Clara, Ingrid und Natalia(Kinderedaktion Böser Wolf )
Foto: Grand méchant loup
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